Endzeit, Texte

Anfangende

Es war Krieg.

Nicht irgendein Krieg, kein regional begrenzter Konflikt, kein Zwist zweier Nationen. Es war der Krieg. Der letzte, allgegenwärtige. Von dem niemand frei war, der alles veränderte.

Er war laut und gewaltig. Das Erste, was er zerstörte, war die Ruhe. Die Luft war erfüllt vom Weltuntergang, vom Heulen der Bomben, vom Lärmen der Luftabwehrgeschütze. Von Detonationen, von Maschinengewehrfeuer. Von Schreien und Weinen. Selbst in den verlassenen, trümmerschweren Straßen, in den Häuserruinen und klaustrophobischen Bunkeranlagen starb die Stille. Und die Menschen. Sie verendeten an der Macht des Krieges – an der Brutalität einer Waffe, an Krankheit und Hunger, an Angst. Einem nackten Entsetzen, das schlimmer war als all das Gräuel: es gab kein Entkommen, keinen Ort, der vom Schatten der Vernichtung unberührt geblieben war. Der Krieg und seine Geschwister waren überall.

Das letzte, was er zerstörte, war die Hoffnung. Jenes hässliche Unkraut, das so viele Generationen überdauert hatte. Dieser Krieg war sein Pestizid.

Wir waren drei. Arthur, ein Funkspezialist, den ich seit Beginn des Krieges kannte. Ein untersetzter, fähiger Mann und einer der wenigen, die Kampf und Schrecken nicht ausgezehrt hatten. Seine Haare waren auf der Flucht, ein dünner, grauer Kranz bildete die letzte Bastion. Hinter einer zerbrechlichen Brille wanderten seine hellen Augen unablässig umher. Er war nicht überschwänglich, aber immer noch lebendiger als die meisten von uns. Manchmal lächelte er.

Der andere, Frank, lächelte nur, wenn er an seine Familie dachte, die in der Stadt hinter uns wartete. Bleiche Haut spannte sich wie Folie über der hageren Gestalt, tiefe Ringe umlagerten seinen weichen Blick. Das kurz geschorene Blondhaar und die Uniform waren das einzig Militärische an ihm. Man hatte ihn aus einem behüteten Ingenieursjob gerissen, ein paar Schulterklappen auf seine Schultern gesetzt und ihn dem Krieg überlassen.

Und ich, als Logistiker. Wenn ich mich im Rückspiegel ansah, dachte ich traurig daran, dass ich früher einmal Farbe in den Wangen und ein Glänzen in den Augen gehabt hatte.

Wir waren in einem alten Jeep unterwegs, der noch den Krieg davor erlebt zu haben schien, um eine Reihe von Richtfunkanlagen zu inspizieren. Das führte uns fort von der Stadt, über unendlich lange, zumeist leere Landstraßen, hinauf in die Berge. Wir waren ein kleiner, müde dahin kriechender Punkt, der gelegentlich anhielt, drei kleinere, noch müdere Punkte ausspie, sie etwas springen ließ, wieder einsammelte und weiter zog. Über Sinn oder Unsinn unserer Mühen zerbrachen wir uns nicht die Köpfe. Wir hatten etwas zu tun. Aber je weiter wir kamen, desto mehr legte sich die Trostlosigkeit über das leere Land und uns. Wir rasierten uns kaum, unsere Uniformen saßen schlecht und starrten vor Schmutz, doch es gab weit und breit niemanden, den es störte. In einer Nacht begegneten wir einem Konvoi, einer sterbenden Schlange, die sich von einem Schlachtfeld zum nächsten schleppte. Wir warteten am Straßenrand und salutierten. In der Dunkelheit war es ein Leichenzug, der uns passierte. Leere Soldatenaugen, Gesichter, in die unabänderbar die Gräuel des Krieges eingebrannt waren, Schweigen.

Niemand von uns wusste mehr genau, warum es Krieg gab. Wir stritten am Anfang unserer Reise einige Zeit über die möglichen Gründe, schoben die Schuld bald diesem, bald jenem zu, aber schließlich nur noch, weil uns nichts anderes mehr blieb. Er war eines Morgens einfach da gewesen, so wie die Zeitung oder die Milch. Es gab Erklärungen im Fernsehen und Radio, Versprechen, Forderungen, Dementi. Mobilmachung, Hysterie und Verbitterung, als die ersten Rechnungen zu zahlen waren. Schließlich Entsetzen, als der Krieg nach Hause kam. Dann setzte das Schweigen ein. Die Fernsehgeräte flackerten, blieben bald darauf stumm, in den Radios ersetzte statisches Rauschen jegliches Wort. Schließlich gingen den Menschen selbst die Worte aus. Ein tiefes Schweigen unter dem Grollen der Zerstörung. Einzig ein Flüstern und Schluchzen schlich sich in schlecht gestimmte Melodie des Todes.

Es war Nacht, als das Ende kam. Die wievielte seit Anfang des Krieges, konnten wir nicht sagen. Unablässig flogen über uns Bomber dahin. Mal aus der einen, dann aus der anderen Richtung. Der Himmel flackerte im Spiel der Luftabwehr.

Arthur fuhr, langsam und ohne Licht, obwohl wir vollkommen uninteressant für die da oben waren. Ich döste auf dem Beifahrersitz, während Frank, wie jede Nacht, aus dem Fenster der Plastikabdeckung sah. Mittlerweile waren wir an den Ausläufern der Berge angelangt. Ein steinernes Band, das die Erde ausgespieen hatte. Wiesen und Hügel, die in verwunschene Waldstücke übergingen, die sich schon bald auf dem grauen Felsuntergrund verloren. Wir hatten angehalten, um auf die Stadt zurückzublicken. Sie war tot, schon seit der Krieg seine knochige Hand darauf gelegt hatte. Trümmer, Ruinen und Feuer. Den Geistern darin blieben nur hoffnungslose Tage und ölig schwarze Nächte. Das Licht war längst unter den Bomben gestorben. Die Straßen selbst waren verwaist, Ausgangssperre und Angst trieben die Bewohner in die tiefsten Winkel ihrer zerbröckelnden Bauwerke. Bald fuhren wir weiter, wortlos. Es gab nichts mehr zu sagen. Die anfängliche Flucht in Belanglosigkeiten, die Träume von nach dem Krieg, die Erinnerungen an das davor, das alles wich bald einer dumpfen Resignation. Einem lastenden Schweigen, das uns langsam das Leben entzog. Aber wir fuhren immer weiter, stahlen Benzin von einem verlassenen Lastwagen, schoben uns über die Serpentinen dahin, als wollten wir unsere Aufgabe bis in alle Ewigkeit fortführen. Ewig wir drei und der Jeep.

Wieder rasten Flugzeuge über uns hinweg, hin zur Stadt. In ihnen glänzte der Tod. Futuristische Tötungsmaschinen der neusten und letzten Generation. Schneller, genauer und verheerender. Arthur schüttelte den Kopf, sprach davon, dass es dieses Mal die Bombe sein würde. Ich zückte darauf nur müde die Schultern.

Unweit von uns spuckte ein Abwehrgeschütz Feuer. Am Himmel zuckten Lichtpunkte auf, wie bei einem fernen Gewitter. Einer von ihnen erlosch nicht gleich wieder, sondern wurde größer, wuchs heran und verwandelte sich in einen kometenhaften Feuerball, der an einer der Felswände zersprang. Einer, der es nicht bis zur Stadt geschafft hatte. Doch an seiner Statt zogen weitere Ungetüme über den Nachthimmel.

Einige Zeit geschah nichts, nicht einmal das Geschütz sprach. Dann kam das Ende. Arthur und ich blickten auf die Straße vor uns, als der Lichtblitz die Dunkelheit durchschnitt. Er war greller, als alles, was wir bis dahin kannten. Brannte sich als Erinnerung unauslöschlich in unsere Gehirne. Die Nacht war glühender Morgen, die Berge vor uns das vergessene Kanaan. Ebbte endlich ab, ließ noch einmal die Erde erzittern und einen zarten Wind aufkommen.

Wir hielten an. Schwiegen. Drehten uns nicht um, wussten, dass der Krieg zu Ende war. Was kam, war das Ende. Der Anfang vom Ende.

Als wir uns schließlich umwandten, stand der Pilz als riesiger Schatten über dem, was einst die Stadt gewesen war. Ein grauschwarzes, ruinöses Geschwür am Grunde des Talkessels.

Frank saß da wie versteinert, die Augen groß und rund, aber ohne Glanz. Wir dachten an seine Familie, von der nichts als Staub und Asche und Erinnerungen übrig waren. Arthur rüttelte an seiner Schulter, aber er blieb reglos. Der Blitz hatte Frank das Augenlicht genommen, die verheerende Explosion das Leben. Alles, was blieb, war ein komatöser Körper, ohne Geist, ohne Seele.

Wir blickten abwechselnd ihn und den trägen Pilz, schließlich uns an. Zurück? Wofür? Es gab nichts mehr. Arthur riss sich die Abzeichen von der Schulter und schleuderte sie in den Staub am Straßenrand. Es gab keinen Krieg mehr, keine Armee, der wir dienen konnten. Wir waren abgeschnitten und losgelöst, verloren und frei. Wohin sollten wir uns wenden? Einer anderen Stadt zu? Hoch hinauf ins Gebirge? Oder … zum Meer? Es war nicht weit. Über die schroffen Berge hinab zur Küste. Das Benzin würde reichen. Und dann? Wir wussten keine Antwort, aber Arthur war einverstanden. Wir blinzelten noch einmal zur Stadt hinüber, ein letztes Mal. Sahen sie für ein paar Herzschläge in einem anderen Licht. Früher … das war einmal. Der Pilz darüber war nun ein beinahe filigranes Kunstwerk, ein Denkmal für unsere Erinnerungen, die sich – wie er – auflösen würden. Seinen abstoßenden Umriss im Nacken, fuhren wir. Nur fort, nicht stehen bleiben, sich nicht einmal mehr umsehen, Sodom und Gomorra auf ewig vergessen.

Bald fingen wir an zu streiten. Arthur war optimistisch, sprach von einem Neuanfang. Träumte längst vergessene Märchenträume von einer Welt, die nur ihm gehören würde. Ich war es nicht. Es war die dunkelste Nacht, an die ich mich erinnern konnte. Schlimmer, als einsame, verängstigte Kindernächte. Die fleischigen Schatten trugen längst verdrängtes Grauen in sich. Gelegentlich flackerten Blitze hinter den Bergen auf, begleitet von leisem Grollen und Tosen. Aber unmittelbar vor uns blieb es pechschwarz. Als wären unsere Augen wertlos geworden, so tot wie die Gallertmasse in Franks Augenhöhlen.

Im Morgengrauen erreichten wir den Pass. Er war verlassen, die Einheit abgerückt. Es gab nichts mehr zu beschützen. Die Bunkeranlagen nur mehr bewohnt von den Geistern des Krieges, die Depots hastig geplündert. Wir hielten den Jeep an und blickten voraus und zurück. Über Nacht waren überall Pilze gewachsen. An Stellen, an denen bis vor kurzem noch Städte mit Hunderttausenden Menschen gewesen waren. Eine fremdartige Saat, die auf Mauerruinen und Knochenasche wucherte. Riesige Gewächse, die kein Fungizid jemals würde tilgen können, deren ekelhafte Pestilenz das Land und die Welt durchdrang. Fast war es, als müsste ich nur die Hand ausstrecken, um einen davon zu pflücken, mir das Gift, das er verströmte, direkt injizieren.

Es war sehr still, die Luft roch verbrannt und leblos, während wir mit steifen Schritten in der geisterhaften Bastion umherwanderten. Ich sah nach Frank, aber er war leer, starrte noch immer in das gleißende Licht des Untergangs. Sein Gesicht glich einem Totenschädel. Später pinkelte ich auf den Sessel des Kommandanten. Der heiße Strahl hinterließ einen brennenden Schmerz in meinem Unterleib. Schließlich fanden wir ein paar übersehene Konserven, warfen sie achtlos neben Frank auf die Rückbank und fuhren den Berg hinab. Es war, als wären wir die einzigen Menschen auf dieser Welt. Selbst der Himmel war tot.

Irgendwann tauchten wir in einen dichten Wald ein. Nun waren die Schrecken dort draußen nichts als ein Hirngespinst, ein Phantom aus Kindertagen. Arthur pfiff vergnügt, ich lehnte mich zurück und versuchte zu schlafen.

Vielleicht fand ich ein paar Momente Ruhe, vielleicht dümpelte ich auch nur dahin. Aber immer sah ich das Meer, als ich die Augen schloss. Vorhin, auf dem Bergkamm, hatte ich das breite, blaugraue Band gesehen, doch es trat hinter den beängstigenden Geschwüren zurück. Trotzdem glaubte ich, schon jetzt seinen beruhigenden Klang zu hören, ein zartes, wiederkehrendes Wispern, Wellen, die unablässig auf dem unberührten Strand ausliefen. Seit jeher, noch bevor der erste Primat seine Füße in den Sand gegraben hatte. Und noch lange danach.

Arthur stieß mich an und entriss mir den Ozean. Ich richtete mich erschöpft auf, folgte mit kraftlosem Blick seiner Hand, die zitternd den Berg hinauf wies. Es war Mittag, vielleicht. Der Himmel war trüb und aschgrau, befleckte mit seinem kranken Licht die Felsen und Wälder. Verborgen hinter einem bewaldeten Hang lag ein Gehöft, ein weißer Fleck inmitten des märchenhaften Grüns. Das Dach schwarz, die Scheune schokoladenbraun. Weit entfernt lugten die grauen Staub- und Aschewolken hinter dem gewaltigen Bergmassiv hervor.

Arthur wendete den Wagen, ich protestierte nicht. Langsam fuhren wir wieder hinauf, vorbei an dichten, alten Bäumen. Seine Augen suchten den Straßenrand ab, während sich seine Hände in nervöser Anspannung um das Lenkrad krampften. Und da, verborgen hinter Büschen und Ästen, war ein zerfurchter Weg. Wir stiegen aus, räumten die Barriere zur Seite und fuhren den Feldweg hinauf. Schlamm spritzte auf, das Heulen des Motors fraß sich in die Stille. Nach einigen Windungen hielten wir schließlich vor dem einsamen Bauernhof. Er war gepflegt und sauber, als hätten ihn die Ereignisse nicht berührt. Ein weiß gekalktes Fachwerkhaus mit flachem Dach, neben dem eine hölzerne Scheune kauerte, aus der ein abgemagertes Pferd den Kopf steckte. Auf dem Hof räkelten sich ein paar struppige Katzen, braunweiße Hühner beäugten uns misstrauisch und eine Ziege hob fragend den Kopf. Gemüse grünte in einem winzigen Gärtchen vor dem Haus.

Arthur hatte Tränen in den Augen, lief umher, liebkoste die zahmen Tiere, roch an den Blumen und betrachtete schmatzend das Gemüse. Ein alter Hund, halb blind, humpelte heran, schnupperte an der ausgestreckten Hand und wich nicht mehr von seiner Seite. Ich lehnte am schmutzigen Wagen und sah nur das Meer.

Die Frau musste schon länger von dem kleinen Fenster unter dem schwarzen Dach aus zugesehen haben. In ihren kräftigen Fingern hielt sie ein Kleinkalibergewehr, aber der Lauf wies von uns fort. Arthur bemerkte sie, verbeugte sich und grüßte überschwänglich. Seine Stimme war klar wie der Gebirgsbach neben der Scheune, voller Leben, unbefleckt von den wuchernden, giftigen Pilzen hinter den Bergen. In seinen Augen leuchtete es, er sog jede Einzelheit in sich auf, füllte sich damit, während er erzählte. In schäumenden Worten von uns, unserer Reise, vom Ende des Krieges.

Sie hörte ihm zu, begierig auf seine Worte, die sie umspielten, ihr schmeichelten, unsere schäbigen Uniformen und ausgezehrten Gesichter vergessen machten. Schließlich durften wir in das kleine Haus eintreten. Es roch sauber und heimelig, schloss die Schrecken hinter uns aus. Die Decke war niedrig, an den Wänden hingen alte Bilder, die Möbel wirkten benutzt und gemütlich. In der Stube fiel das Tageslicht durch winzige Fenstervierecke, strich über einen abgewetzten Teppich, ein abgenutztes Klavier, einen steifen Lesesessel und eine einladende Essecke.

Es gab nur zwei Bewohnerinnen. Die junge Frau, provinziell schön, mit kräftigen Wangen und weichen, gutherzigen Augen, und ihre schweigsame Mutter, ein faltiges Wesen im Schaukelstuhl vor dem Kamin. Die Männer waren irgendwann in den Krieg gezogen und nicht zurückgekehrt. Ihre Photographien verblassten in goldenen Rahmen über dem Kamin.

Wir aßen gemeinsam, redeten. Es war eine karge Mahlzeit, aber nach dem ständigen Konservenfraß wie ein Festmenü. Arthur fühlte sich wohl, lebendig. Er lachte und strahlte wie ein Kind, verließ den Krieg einfach so und kam hierher. Ich war nicht wirklich dort. Die Milch schmeckte nach Salz und ihre Worte verloren sich im Rauschen der Brandung. Als die Teller geleert waren, spielte Arthur auf dem Klavier, so beschwingt, dass selbst die Alte im Schaukelstuhl mitwippte.

Es war Zeit, mich zu verabschieden. Arthur blieb. Er kam mir nach, als ich ein paar Vorräte auslud. Statt der Uniform trug er zu weiten Hosen und eine Strickjacke, die dem Toten auf der Photographie gehörte. Es war sein Neuanfang. Wir schüttelten uns die Hand, wünschten uns Glück und ich machte mich mit Frank davon, der gar nichts zu alledem sagte und dem Speichel vom Kinn tropfte. Hinter uns zog Arthur die Barriere wieder an ihren Platz, um sie nicht noch einmal zu öffnen.

Ich fuhr weiter. Langsam, aber zielstrebig. Gelegentlich schlief ich ein paar Stunden, aber es war keine Erholung darin. Ich fühlte, wie das Meer mit jedem Stück, das ich verkürzte, stärker in meinem Blut wogte. Die Wellen warfen Gischt in meine Augen, rauschten in meinen Ohren.

Irgendwann starb Frank. Ich bemerkte es erst, als er auf dem Rücksitz umkippte. Einige Zeit fuhr ich weiter, unterhielt mich mit ihm. Über seine Familie, Arthur, den Krieg, ich weiß nicht mehr was. Ein Gespräch zwischen Leben und Tod, während Waldrand und Felsen als stumme Zeugen an uns vorbeizogen. Dann lenkte ich an den Straßenrand, zog seinen leblosen Körper aus dem Jeep. Sein Kopf mit den leeren, weit geöffneten Augen pendelte hin und her, die zerkratzten Stiefel hinterließen dünne Linien auf dem staubigen Boden. Ich begrub ihn unweit der Bäume. Die Erde war hart und trocken, als weigerte sie sich, auch nur einen weiteren Toten aufzunehmen. Ich scharte und hackte, bis meine Arme schmerzten und sich Schweiß und Tränen mit dem Schmutz auf meinem Gesicht mischten. Weinte, als ich ihn mühsam in das grobe Loch zerrte und mit Erde bedeckte. Trauer um all die Toten, die ich mit Frank zusammen da unten in der stillen Dunkelheit verbarg. Vor dem Grab sprach ich ein paar belanglose Worte, unzusammenhängende Sätze, die mir in den Sinn kamen. Legte seine Schulterklappen unter einen scharfkantigen Stein, salutierte und stieg in den Wagen. Er war jetzt bei seiner Familie. Blieb nur mehr ich.

Bald hatte ich die Berge hinter mir gelassen. Die Küste war nicht mehr fern. Ich rollte durch ein ausgebranntes Dorf, die zerbröckelnden Mauern schwarz vom Feuer. Seine Bewohner verkohlt oder geflohen. Die Ruinen waren noch warm, aber ich gab nichts mehr darauf, scherte mich nicht um mögliche Überlebende oder die schwelenden Reste des Supermarktes. Nur immer weiter.

Schließlich begann es zu schneien. Oder sah zumindest so aus. Die Welt versank im grauen Einerlei des Fallouts. Dicke, ekelhafte Flocken, die vom trüben Himmel fielen, die Motorhaube bedeckten und die Scheiben verschmierten. Bald eine dünne Schicht auf dem Boden bildeten, die Wunden des Krieges überzogen.

Ich spürte das Meer jetzt deutlich. Nicht nur in den kurzen Schlafphasen. Es war allgegenwärtig. Rauschte und toste, während ich durch den nuklearen Winter glitt. In meinem Kopf begann es schmerzhaft zu pochen, ich schwitzte und zitterte. Meine Augen waren überreizt und mit den salzigen Tränen verwischte das verseuchte Schneetreiben zu einem grauen Nichts.

Als der Unfall kam, fuhr ich kaum noch, aber er genügte, dass ich mir die Stirn an der schmutzigen Scheibe aufschlug. Helles Blut rann am Glas hinab und ich saß lange da und starrte darauf. Das Brennen der Wunde brachte mich schließlich zurück und ich zwang mich, aus dem Jeep zu klettern, der in den Straßengraben gerutscht war. Der Ascheregen hatte nachgelassen, nur einzelne Flocken legten sich auf meine Haare. Die Luft roch seltsam, leblos und metallisch, jeder Atemzug zog einen Würgreiz nach sich.

Langsam stolperte ich vorwärts. Durch eine graue, abgestorbene Landschaft, bedeckt unter einer erstickenden Schneeschicht aus Seuche und Tod. Der Himmel war blind, selbst die atomaren Pilze waren darin verschwunden. Und es war still. Das ganze Land war ohne jedes Geräusch. Keine Menschen, keine Tiere, nicht einmal das Flüstern des Windes. Frierend stapfte ich weiter, die Arme um mich geschlagen, Blut und Rotz im Gesicht. Durch die tote Einsamkeit.

Hinter dieser Stille hörte ich es schließlich, das Meer. Ein süßes Lied, rein und klar. Es spielte in die dumpfe Lautlosigkeit hinein, mischte sich in meine Träume, dass ich nicht mehr wusste, was wahr und was erhofft war. Eine weiche, unablässige Brandung. Immer und immer und immer wieder. Unaufhörlich, gegen den Hass der Menschen. Ein wisperndes Rauschen, das eine ewig gleiche Geschichte erzählte – von dunkler Ruhe, von Freiheit.

Endlich spürte ich Sand unter mir, fiel dankbar auf die Knie und grub meine rissigen Hände in den weichen Grund. Ich konnte kaum sehen vor Tränen und grauer Blindheit, aber fühlen. Fühlen, wie die einzelnen Körner durch meine Finger rieselten, in den kleinen Rissen brannten, an mir kleben blieben. Dann begann sich die Welt zu drehen, die helle Fläche tanzte und zuckte, krümmte sich, bis ich kippte, das Gesicht voran, und hart aufschlug. Erschöpfung, Müdigkeit und eine längst vergessene Krankheit brachen über mich herein, senkten sich schwarz und erstickend auf mich herab, riefen mich fort, weit fort. Ich schlief oder war bewusstlos. Trieb durch Fragmente von etwas, das einmal mein Leben gewesen war. Verfärbte Bilder, brüchig wie alte Photographien in verwaschenen Sepiatönen. Da war keine Chronologie, nur eine willkürliche Folge zwischen Damals und Heute. Dinge, an die ich mich erinnern konnte, weit vor dem Krieg, Menschen, deren Namen mir nicht einfallen wollten. Ich glitt durch sie hindurch, sah sie verwundert, oft ängstlich an, aber sie entzogen sich mir sofort, fielen zurück in die Dunkelheit. Ließen mich allein. Aus dem Dahintreiben wurde ein Fall, ein rasender Sturz, an dessen Ende … Das Rauschen holte mich zurück. Es spülte in mich hinein, löschte die Bilder aus, nahm sie endgültig fort. Ich öffnete die Augen, ohne viel sehen zu können. Spuckte Blut und Sand, hustete, würgte und erbrach mich, richtete mich mühsam auf. Das Meer … ich konnte es endlich sehen. Ein blaugraues Band. Da, vor mir in der grauen Leere.

Ich zerrte mir die schmutzige Uniform vom Leib, riss die schweißnasse Unterwäsche herunter, schleuderte die Fetzen fort, auch die Stiefel, bis ich nackt und frierend da stand. Meine Füße waren wund und hinterließen blutige Spuren auf Sand und Asche, als ich vorwärts wankte. Bald stolperte ich und kroch auf allen Vieren die nachgiebigen Hügel hinauf. Sandkörner in den Wunden, in meiner Nase, meinem Mund. Das Wispern zog mich unaufhaltsam zu sich, flüsterte in meine Ohren, perlte in meinen pochenden Schädel. Und da, hinter der letzten Düne, lag es. Unberührt vom Tod, tief und endlos. Eine blaue, ruhige Fläche, nur an den Ausläufern vor mir gekräuselt. Das erste Mal seit langer Zeit war die Luft nicht mehr tot, trug sie den Geruch des Ursprungs in sich. Es rief mich, aber ich wartete, starrte hinaus auf die See. Wartete lange. Darauf, dass sie kam. Ich hatte alle Zeit der Welt.

Als das Wasser meine bloßen Füße berührte, bewegte ich mich vorsichtig, um seinen Lauf nicht zu stören. Tat einen kleinen Schritt in die betäubende Kälte. Das Salz stach in den Wunden, aber ich zuckte nicht, hieß ihn Willkommen, bis er allgegenwärtig war, sich mit der eisigen Berührung mischte. Ich watete vorwärts, langsam, Schritt für Schritt.

Das Wasser stieg an mir empor, stieß in meinen Unterleib, weiter hinauf, hinterließ nur eine wohltuende, befreiende Kälte. Drückte auf meine Brust, nahm meinen Herzschlag in sich auf, zogen ihn in die endlosen, dunklen Weiten. Umschloss meinen Hals, das Kinn. Betäubte mich. Tötete das Grauen, den Hass und die Verzweiflung ab. Benetzte meine zitternden Lippen, rann über meine Nase, ließ mich für eine Welle frei und kam zurück. Die unruhige, graublaue Oberfläche in Augenhöhe. Nur mehr das Meer. Nicht einmal mehr Kälte, Schmerz oder Fühlen. Nicht einmal mehr ich.

Tiefer hinein, ins große Unten. Ins Vergessen. In die Erlösung.