Texte

Das Herz von alledem II.

Da liegt sie mit geweiteten Augen. Blickt in den wolkenlosen Himmel, spürt den warmen Wind auf ihrer Haut. Ihre Beine gespreizt unter dem zerknitterten Laken, ihr Geschlecht geöffnet. Ein wenig Samen von der letzten Liebe, der daraus hervortropft, einen schimmernden Fleck auf dem Leinen hinterlässt. Die Luft ist drückend, fiebrig, trägt den Spätsommer in sich. Sie beginnt zu schwitzen und schlägt das Laken zurück. Steigt aus dem Krankenhausbett, dessen alternde Farbe angestoßen und zerplatzt ist. Ihre nackten Füße auf den Marmorfliesen, Vierecke in Schwarz und Weiß, die nach wenigen Schritten vom Grün des langen Grases abgelöst werden.

Es ist ein kleiner Hügel auf dem das Bett steht, von dem aus man hinab ins Tal sehen kann. Dort liegt das Ende der Welt, still und ausgestorben. Auf einer benachbarten Anhöhe thront ein majestätischer Baum, in dessen Krone ein gefleckter Jagdhund sitzt und lächelt.

Sie fühlt sich wohl in der sonnigen Wärme, die einlädt, nackt und bloß über das grüne Auf und Ab zu schreiten. Das Kitzeln der Grashalme unter den Füßen, ein zarter Hauch auf ihrer Haut, ihren Schenkel, ihren spitzen Brüsten. Sie schirmt die Augen mit der Handfläche ab, schaut die sanfte Erhebung hinunter. Da war einst die Stadt. Stadt der Städte. Metropole. Keine Spur mehr von ihrem Stolz, von ihrer Bedeutung. Der einstige Glanz ist verblichen, die Wolkenkratzer nur mehr brüchige Ruinen, in denen der Wind spielt. Über allem hellgraue Asche, ein grobflockiges Leichentuch, das an der Haut klebt, als sie langsamen Schrittes den Hügel hinabsteigt. Die Stadt ausgestorben, ausgehöhlt. Bröckelnde Fassaden und Reihen glasloser Fenster. Schutt unter dem Flockenregen. Skelettierte Karosserien dazwischen. Plakate und Reklametafeln, ihrer Farben beraubt. Sie streift umher, kümmert sich nicht um den grauen Schmier, der langsam ihre Beine hinaufkriecht, die leblose Farbe, die sich in ihr hellbraunes Haar stiehlt. Eine winzige Gestalt zwischen den Häuserschluchten, begleitet vom leise klagenden Wind und einem seltsam trockenen Geruch darin. Nicht mehr allein, als sie den Gesang hört. Ein paar schiefe Töne, die an den zerstörten Mauern zerbrechen. An einer Kreuzung biegt sie nach rechts ab, in die tote Ader einer Hauptverkehrsstraße. Vier Spuren, die nun unter dem grauen Schleier verborgen liegen. Am Fuß eines Hochhauses steht der Mann und trällert Weihnachtslieder, deren Texte so unvollständig sind wie die Zähne in seinem Mund. Alt ist er, selbst so Asche verschmiert sind die Falten in seinem Gesicht zu sehen. Und klare, ferne Augen. Sein Leib ausgezehrt unter dem zerschlissenem Unterhemd, ein einst blauer Overall bis zum Bauch hinabgerollt. Drahtiges, grau-weißes Haar steht in Büscheln auf seinem Kopf und seiner Brust. Im Takt der Melodien lässt er die Schneeschippe über den Bürgersteig kratzen. Entfernt Schaufel um Schaufel des grauen Niedergangs. Räumt den Gehweg frei für nichts und niemanden. Dünne Staubflocken tanzen durch die Luft. Jingle Bells. Der Alte hält inne, als sie über die Straße herankommt, mit bloßen Füßen durch die verseuchte Winterpracht watet. Ihre Nacktheit ebenso mit Asche bestäubt wie sein Gesicht. Das Lied verstummt, er stützt sich auf den Stiel der verbeulten Schaufel und beobachtet sie.

Wo geht es lang, will sie wissen, ohne sich ihrer Nacktheit zu schämen.

Der alte Mann zuckt die Schultern und klaubt mit zittrigen Fingern Aschereste von seiner Brust. Überall hin, antwortet er müde.

Nein, sagt sie, wo geht es wirklich lang?

Vor oder zurück, fragt er.

Zurück.

Er spuckt in die Handfläche und stochert mit dem Finger im zähen Gemisch aus Asche und Spucke. Ursuppe, krächzt er, dahin geht es zurück.

Dann vorwärts.

Sein Blick wandert langsam die Straße entlang, über den verseuchten Asphalt, die ausgemergelten Autos, die zerstörten Fassaden. Dort hinten wartet das Paradies.

Sie schirmt wieder die Augen ab und schaut in die Ferne, während der Alte mit seiner Arbeit fortfährt, Silent Night auf den rissigen Lippen.

Auf einem Hügel steht es, ein gedrungener Bau mit schmutzigen Backsteinen, erblindenden Fenstern und einer flackernden Neonreklame.

Sie steht am Fenster und blickt hinab in die Stadt. Lichtermeermetropole. Betonmoloch. Glaslabyrinth. Tausendseelenmuster. Von so fern wirken die Bewegungen darin wie ein Puppentrick. Und dennoch pochen dort unten Abertausende Herzen.

Der billige Stoff des gelben Vorhangs reibt rau an ihrer nackten Haut, der Teppich unter ihren Zehen ist abgenutzt und dünn. Die Tapete an den Wänden war einst weiß, aber Zigarettenrauch und Schweiß und Alter haben sie ergrauen lassen. Eine alte Kommode mit einem gesprungenen Spiegel darüber. Die Tür des Wandschranks schließt nicht mehr richtig und quietscht, wenn man sie öffnet. Ein kleiner Fernseher auf einem Tischchen vor dem Bett, daneben ein abgewetzter Sessel, aus dem die Füllung quillt. Auf dem gelben Plastikschirm der Deckenlampe kleben Staub und tote Insekten. Die Tür zum Bad steht weit offen und lässt die Duschkabine mit den angelaufenen Plastikscheiben sehen, ein grellgrüner Teppich davor.

Am Horizont ist der Himmel grau, die giftigen Pilze löschen das Sonnenlicht aus. Sie sind zahlreich, manche nah und groß, die meisten weit entfernt und klein.

Sie beißt sich auf die Unterlippe und krallt die Finger in den muffigen Vorhangstoff.

Hinter ihr protestiert das Bett leise, Schritte nähern sich, ein bloßer Fuß schiebt sich zwischen die ihren. Eine Hand streicht über ihren Rücken, ganz zart ihr Rückgrat hinauf, legt sich auf ihre Schulter. Warmer Atem, der ihren Nacken kitzelt, eine Zungenspitze, die die weiche Haut liebkost. Die andere Hand, die unter ihrem Arm durchwandert, mit neugierigen Fingern den Ansatz ihrer Brust erkundet.

Mit einem Seufzen wendet sie sich um, ohne dass die Hand ihre Schulter verlässt. Steht sich selbst gegenüber. Hellbraunes Haar, das in unruhigen Locken ihr Gesicht einrahmt. Die kleine Nase mit Sommersprossen bestäubt. Die braunen Augen weich und tief, der geschwungene Mund leicht geöffnet, die Lippen feucht.

Sie schaut sich in die Augen, spiegelt sich im Schwarz der Pupillen. Nickt unmerklich, als ihr Ich die Hand hinabgleiten lässt, mit einem schlanken Finger den Linien ihrer Brüste folgt. Sich vorbeugt, um ihren Atem auf die aufgerichteten Knospen zu hauchen. Die Berührung ihrer Lippen ist sanft, begleitet von der Kühle ihrer Zunge, die ihren Weg zu den roten Höfen findet. Sie kostet, zwischen die Lippen führt. Ihre Hände gleiten über ihren Bauch, kitzeln die weiche Haut der Schenkel. Schieben sich weiter. Tasten nach dem gestutzten Rechteck, unter dem die fleischigen Blütenblätter liegen. Ein Finger dringt in die feuchte Wärme, öffnet sie mit vertrauten Bewegungen. Ihre Beine zittern, als die Erregung durch ihren Unterleib kriecht wie ein hungriges Insekt. Die Hand stößt tiefer, drängt sich ins Innere. Ihre Finger erspüren den Puls, bestimmen seinen Takt mit ihrem Ein und Aus.

Dann zieht sie sich zurück, lächelt sie an. Das Gesicht gerötet, die Augen glänzend, der Lippenstift verschmiert. Greift nach einer Hand, um sie zum Bett zu führen. Sie mit bestimmendem Druck darauf zu drängen. Die alten Federn quietschen leise, als sie sich auf die durchgelegene Matratze sinken lässt, schwer atmend, ihre Brustwarzen noch immer hart vor Erregung.

Dort liegt sie und starrt an die angelaufene Decke mit der billigen Plastiklampe. In einer Ecke breitet sich ein feuchter Fleck aus, darunter löst sich die Tapete in einer klebrigen Bahn. Ihr Ich drängt sich zwischen ihre Beine, ihre Finger krallen sich in das weiche Fleisch der Oberschenkel, zwingen sie, sich zu öffnen. Die geschwollenen Lippen klaffen weit offen, noch immer feucht von ihren Küssen und der Erinnerung an den letzten Liebhaber. Erzittern unter den ersten Berührungen der Zunge.

Sie stöhnt auf, ihre Hände legen sich auf den Kopf ihres Ichs, fassen in das Lockenhaar, um ihre Bewegungen und die der Zunge zu diktieren.

In immer kürzeren Wellen kommt die Lust aus ihr hervor. Sie windet sich auf dem alten Hotelbett, schließt für einen Moment die Augen, um sie in einem endgültigen Schrei aufzureißen.

Draußen zuckt ein grellweißer Blitz auf, der für Bruchteile alles überstrahlt. Ein tiefes Beben schleicht durch das müde Gebäude. Die Gläser auf dem Nachttisch klirren leise, die Deckenlampe zittert.

Und der trockene Wind bewegt sachte die billigen Vorhänge, während sich der Himmel draußen grau verfärbt.


Zuerst veröffentlich bei Beatrice von Stein.