Jugendkrimi, Veröffentlichungen

Puppentanz – Der Auftritt (Schwarzlichter)

Puppentanz

Anmerkung: Die erste Bonusepisode, als Überbrückung bis zum nächsten Schwarzlichter: Köln.

Fatty zupfte eine leise Melodie auf seiner Gitarre, Basket Case in Zeitlupe. Er stand am Rand der kleinen Bühne, ganz in sein Spiel vertieft. In Jeans und durchschwitztem McGee-T-Shirt.

Auch Maries Klamotten klebten ihr am Leib, im Scheinwerferlicht war es brütend heiß. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und blinzelte in den kleinen Saal. Gegen den grellen Spot waren die Gesichter nur undeutliche Flecken. Peggy, in der ersten Reihe, hatte sie an ihrer Mütze erkannt. Vor dem Auftritt hatte sie auch Nelly in ihrem roten Pullover gesehen, aber jetzt konnte sie sie in der Menge nicht ausmachen. Der Jugendclub Sunshine war zu gut besucht. Die Leute standen dicht an dicht.

Sie griff nach dem Mikro, Zeit, ein paar Worte zu sagen: “Wir sind Moonrise, zumindest noch, und freuen uns, heute beim Soundcalypse dabei sein zu dürfen.” Sie streckte eine Hand aus. “Am Synthi seht ihr Lena, an den Drums Chris und der Gitarrenzupfer heißt Fatty.” Die einzige Situation, in der sie ihn nicht Ferdinand nannte. “Ich bin Marie und unser letztes Lied heißt Sorrows in a drawer. Das möchte ich heute Abend jemandem widmen. Diejenige weiß schon, wer gemeint ist.” Schade, dass Nelly nicht in der ersten Reihe stand.

Marie gab ein Zeichen: “Lasst hören, Jungs und Lena.” Dann trat sie zwei Schritte zurück, aus dem Lichtkegel heraus.

Den Anfang macht Chris mit einem harten Solo. Eine Abfolge von tiefen, dumpfen Schlägen, in die Lena nach und nach Klänge mischte: das verzerrte Sample einer Schublade, die geschlossen wurde, und ein leises, statisches Rauschen. Schließlich kam Ferdinand hinzu, dessen Riffs kaum hörbar begannen und schnell immer lauter wurden. Erst jetzt war Maries Einsatz gekommen. Ihr Herz schlug heftig, ein bisschen aufgeregt war sie. Weil es ihr bester Song war. Weil Nelly irgendwo da unten stand und zuhörte.

All sorrows and fears

I left behind.

Locked in the drawer of my desk.

I think you would smile

if you could see me now.

But nothing lasts forever,

all things come to an end.

And when I return

the drawer is broken

and all my fears welcome me again.

Am Ende drehten Fatty und Chris noch einmal richtig auf, aber das Lied endete erst, als Lena noch einmal die Schublade zuknallen ließ.

Das Publikum applaudierte, ein paar Leute pfiffen vor Begeisterung, eine davon vermutlich Peggy. Perfekt war es nicht gewesen: Ferdinand hatte einmal zu lange gespielt und sie selbst an zwei Stellen nicht sauber gesungen. Vielleicht musste sie noch mal ein paar Stunden Gesangsunterricht nehmen. Aber dazu fehlt ihr momentan wirklich die Kohle. Blöde Puppen.

“Danke schön! Viel Spaß mit dem Mainact”, rief sie ins Mikrofon. Während die drei sich noch verbeugten, war Fatty schon von der Bühne gestapft. Marie half Lena mit dem Abbau des Synthesizers.

“Das wäre auch geschafft. Ich fand es gar nicht schlecht.” Lena trug ein schwarzes Kapuzenshirt mit dem Jenseits der Träume-Logo und einer roten Rose darauf. Das blonde Haar stand in wilden Wirbeln ab. Sie klappte den Laptop zu und verstaute ihn in einer Umhängetasche.

“Hätte besser sein können. Wir müssten einfach mehr proben, aber das kannst du knicken. Na, jetzt machen wir erst einmal Party.”

“Mein Papa holt mich in einer Viertelstunde ab.”

“Das ist schade. Es wird sicherlich nett. Ein bisschen tanzen und so.”

“Ich bin doch eh nicht der Partytyp.” Sie schulterte den Synthesizer, winkte und stieg von der Bühne.

Marie hob die Hand, vergaß aber zu winken. Da vorne stand Nelly. In ihrem roten Pulli, mit dem Pferdeschwanz und den wasserblauen Augen. Marie wischte sich die feuchten Handflächen ab. Sie hätte sich lieber noch etwas frisch gemacht, anstatt völlig verschwitzt vor der Freundin zu stehen.

Bis zur nächsten Band lief Musik von CD und die Leute tanzten oder tranken was an der kleinen Theke. Sie sah Peggy und Ferdinand, die sich eng umschlungen küssten. Aber das rückte alles in den Hintergrund, sie konnte nicht einmal sagen, welches Lied gerade lief. “Hallo, Nelly!” Sie umarmte das Mädchen, zog sie ganz fest an sich. Flüsterte ihr ins Ohr: “Schön, dass du da bist.” Ihre Hand strich über Schulter und Rücken.

“Hi, Marie”, erwiderte Nelly sanft. Einige Zeit standen sie so, ohne sich zu bewegen. Marie hätte sie gerne geküsst. Ihren Hals, dort wo die Haut so weich war. Ihre Wangen oder ihre Lippen. Ihr war warm und sie spürte das Rauschen des Pulses in ihren Ohren.

“Willst du was trinken?”, fragte sie schließlich, ergriff Nelly und zog sie in Richtung Theke. Unterwegs winkte sie Peggy zu, die vergeblich versuchte, Ferdinand zum Tanzen zu bewegen. Der trank lieber sein mitgebrachtes Bier. Ein paar aus Maries Klasse waren auch da, aber nicht viele. Die hatten morgen bestimmt wieder was zu tuscheln.

“Cola?” Nelly nickte. Jetzt konnte Marie die feinen Sommersprossen auf ihrer Nase sehen. In ihrem Bauch kribbelte es. Sie bestellte zwei Gläser Cola.

Die Freundin sah sich ein wenig unsicher um, ihre Wangen waren gerötet und ihre Augen schimmerten.

Marie beugte sich vor, um nicht gegen die Musik anschreien zu müssen: “Du siehst total hübsch aus.”

Jetzt lächelte Nelly und trank entschlossen ihr Glas leer. “Lass uns tanzen, Marie.” Damit ergriff sie ihre Hand und zog sie auf die Tanzfläche. Gerade lief Never let me down again von Depeche Mode. Die beiden Mädchen fingen an, sich im Takt der Musik zu bewegen, aber schon nach der Hälfte des Liedes hielt Nelly inne und grinste bis über beide Ohren.

“Was?”, schrie Marie ihr entgegen.

Die andere musste fast lachen: “Wie du tanzt, total ulkig.”

Marie verzog das Gesicht: “Ach, das … Gewöhn dich dran, ich tanze Freestyle.” Dabei streckte sie einen Arm in die Höhe und ließ die Hüften kreisen.

“Das sehe ich. Mehr free als Style”, antwortete Nelly, aber dabei lächelte sie bezaubernd.

Nach fünf Liedern waren sie nass geschwitzt. “Ich muss mal verschwinden”, bedeutete Nelly.

“Solange bin ich an der Tür, ein bisschen frische Luft schnappen.” Marie sah dem roten Pulli nach, wie er in der Menge verschwand. Dann bahnte sie sich einen Weg zum Ausgang. Da hatte sie Peggy gesehen. Die nächste Band war ohnehin gleich dran, dann war Schluss mit dem Tanzen.

Ihre beste Freundin stand mit dem Rücken zu ihr, so dass Marie sie von hinten umarmen und ihr einen Kuss in den Nacken hauchen konnte. “Hallo, Peg. Wo ist dein Traumprinz?” Hier war die Musik nicht allzu laut, so dass man sich normal unterhalten konnte.

“Nur mal eben Kippen holen. Ich darf solange auf das Bier von Herrn Fleischer aufpassen.” Sie deutete auf einen schwarzen Rucksack zu ihren Füßen.

“Habt ihr auch Wein?”

“Nee, nur Kölsch. Ganz schön sexy, dein Outfit.”

Marie lächelte geschmeichelt: “Findest du?” Sie trug ein enges, samtgrünes Oberteil, das Arme und Bauchnabel freiließ. Dazu die Bondage-Hose und ihre zerfledderten Chucks mit Ringelstrümpfen darin. Rechts rot-weiß, links grün-schwarz.

“Das gäbe Knast für Verführung von Gymnasiastinnen.”

“Was denn? Nell ist fast achtzehn.”

“Wie läuft es denn so?” Peggy hakte sich bei ihr ein.

“Mmh, mmh. Sie ist total süß.”

“Ihr großes Coming out. Benimm dich bloß anständig.” Sie gab Maries Nase einen Stups.

“Ich? Ich benehme mich immer anständig. Bis auf meine Manieren, die …”

“Ja, ich weiß: die stecken in der Tasche deines Morgenmantels und der hängt leider zuhause. Da ist dein Liebchen.” Sie zeigte in Richtung Nelly, die auf sie zukam.

Marie löste sich von Peggy. “Nelly, das ist Peggy, meine beste Freundin.”

Die beiden Mädchen gaben sich die Hand, aber auf Nells Stirn war eine steile Falte zu sehen.

“Da schlurft auch Ferdinand heran”, bemerkte Marie und zog Nelly zur Bühne zurück, “der lässt nur wieder einen doofen Spruch ab. Wir sehen uns später, Schätzchen.”

Peggy winkte: “Klar, vergnügt euch schön.”

Der letzte Act begab sich gerade an die Instrumente.

“Ist das deine Ex?”, fragte Nelly vorsichtig.

“Wer, Peggy? Die ist total hetero, musst dir nur ihren Freund angucken.” Sie standen dicht nebeneinander, als die Musik begann. Die Band hieß XYZ, spielte deutschsprachigen Indierock und klang schon fast wie Profis.

Aber Maries Aufmerksamkeit schweifte schnell von der Bühne ab. Immer wieder sah sie zu Nelly hinüber, deren Profil vom wechselnden Licht erhellt wurde. Etwas kräftiger als sie selbst, mit vollen Brüsten unter dem roten Wollstoff. Sie schien ganz vertieft in die Lieder zu sein.

Im zweiten Song schob Marie endlich einen Arm um ihre Mitte. Nell wandte ihr den Kopf zu und sah sie einen Moment ernst an. Maries Herz tat einen schmerzhaften kleinen Hüpfer. War sie zu weit gegangen? Dann lächelte Nelly und legte ihre Hand auf die der Freundin.

Der Gig verging wie im Traum, Marie achtete auf nichts, außer dem Mädchen neben sich. Ihre unmittelbare Nähe, die Berührung ihrer Finger. Als XYZ unter tosendem Applaus von der Bühne gingen und die Musik aus dem CD-Player wieder einsetzte, glitten die beiden auf die Tanzfläche. Ohne ihre Umarmung zu lösen, eng umschlungen. Maries Gesicht an Nellys Hals vergraben. Ihren Duft in der Nase. Gelegentlich einen angedeuteten Kuss in die Halsbeuge. Ihre Hände auf Schulter, Rücken, schließlich oberhalb des Pos. Und die Berührung der Freundin, kaum merklich in ihrem Nacken.

Die Lieder flossen ineinander: Wie sind Helden, Nightwish, Red Hot Chili Peppers, … Das bunte Licht hüllte sie ein, verwischte die anderen Tänzer um sie herum. Da waren nur Marie und Nelly. Nelly und Marie. Sie lösten sich ein wenig von einander, blickten sich in die Augen. Nells Haut golden im Scheinwerferlicht. Den Mund leicht geöffnet. Ihre Augen schimmerten erwartungsvoll. Und Marie beugte sich vor, wie in Zeitlupe. In den wasserblauen Seen von Nellys Augen gefangen … ertrinkend.

Ihre Lippen schmeckten süß. Weich und angenehm und warm. Sie berührte sie erst sanft, dann drängender. Schloss die Augen und presste die Freundin ganz fest an sich.

“Ich … ich kriege keine Luft mehr”, wisperte Nelly und verschaffte sich etwas Raum. Sie atmete heftig.

Marie spürte, wie sie errötete und lächelte: “Da sind die Pferde etwas mit mir durchgegangen.”

Sie schwiegen einige Zeit, ohne den Blick voneinander zu nehmen.

“Möchtest du … möchtest du noch mal?”, fragte Marie ein wenig unsicher. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Aber Nell nickte und sah sie aus großen Augen an.

Langsam näherten sie sich einander und küssten sich erneut. Sanft und lang, einmal berührten sich ihre Zungenspitzen.

“Wow”, keuchte Nelly schließlich und befreite sich aus der Umarmung. “Wow.” Mit einer Hand hielt sie Marie zurück. “Ich brauche erstmal eine Pause. Und was zu trinken.”

“Wie du willst …” Der Club hatte sich merklich geleert, um zwölf Uhr war ohnehin Schicht. Aber für eine Cola reichte es noch. Peggy kam, um sich eilig zu verabschieden. “Fatty ist ein bisschen betrunken und steht draußen. Ich muss zusehen, dass ich ihn ins Taxi kriege.” Sie küsste Marie flüchtig auf die Wange. “Ruf mich morgen an, ja? Tschüß, Nelly.” Dann eilte sie auch schon davon, so schnell es in ihren hochhackigen Stiefeln ging.

“Ich muss dann auch los. Meine Ma wartet bestimmt schon draußen.”

“Ich bringe dich noch raus”, bot Marie an und legte einen Arm um sie.

Durch die geöffnete Tür drang kalte Luft herein und ließ sie frösteln.

“Lass uns hier verabschieden”, bat Nell und wandte sich der Freundin zu.

“Stress mit deiner Mutter, weil du auf Mädchen stehst?”

“Nicht so richtig. Meine Eltern haben noch keinen Schimmer und ich will sie nicht gleich schocken.”

“Okay. Aber ich mache nicht auf Geheimhaltung oder so.”

“Ich werde es ihn schon sagen, aber eben nicht gleich so.” Sie lächelte Marie an. “Rufst du mich morgen auch an?”

“Bestimmt sogar. Morgens, mittags und abends.”

“Abends wäre schön. Kriege ich jetzt noch einen Kuss?”

Marie spürte die Berührung noch auf den Lippen, als sie Nelly in die Dunkelheit verschwinden sah. Draußen hatte es angefangen zu regnen. Das Licht aus dem Club warf seltsame Schatten auf den nassen Asphalt. “Jetzt kann die Welt untergehen”, sagte sie glücklich. Dann ging sie ihre Jacke holen.

(Oktober 2007)