Der große Sprung (Krimi aus dem Totenreich 1)
Krimi aus dem Totenreich 1
Die Blondine war hübsch, der Auftrag klar: Finden Sie Kevin Delano, den netten Jugendfreund, der sich gerade selbst das Lebenslicht ausgepustet hatte. Routine für Privatdetektiv Roger Cross. Wenn es im Totenreich einen gab, der verlorene Seelen aufstöbern konnte, dann ihn. Nur, dass an dem Auftrag etwas ganz gehörig stank und bald war Cross nicht der Einzige, der hinter dem Selbstmörder herjagte. Start eines mörderischen Wettlaufs. Denn wenn die Hölle ihren Preis forderte, mussten sich auch die Toten fürchten!
Dies & Das
- Der große Sprung wurde 2003 im Krimimagazin Criminalis 2 veröffentlicht.
- Bonus: Detektivgeschichte Zahltag
- Über die Krimis aus dem Totenreich
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Fakten
Krimi aus dem Totenreich 1
Kurzgeschichte
Genre: Hard-boiled, Horror
Verlag: Kindle / Neobooks
Juni 2012
ASIN: B008ND8BPM
Leseprobe
Sie kam gegen Mitternacht, eine passende Stunde für ihre Sorte. Ich saß an meinem Schreibtisch und stierte gelangweilt auf die Maserung des Holzes, als sie sich in den Sessel mir gegenüber setzte. Sie war hübsch, kein Zweifel: Blondes, lockiges Haar, unschuldiges Gesicht und strahlende Augen, die sie mühelos mit Tränen füllen konnte, Würgemale an ihrem schönen Hals.
Ich schwieg und musterte sie nur desinteressiert. Sie saß da und betrachtete mich unsicher, wartete eine geraume Weile, bis sie ansetzte zu sprechen. Genau in dem Moment brach ich mein Schweigen: “Hübsche Schramme, die Sie da haben.” Dabei deutete ich mit dem Kinn auf ihren Hals. Ihre behandschuhte Hand fuhr verunsichert über die dunklen, fast schwarzen Male. “Die stammen von meinem Mann”, antwortete sie abwesend, schürzte dann die Lippen und fügte mit fester Stimme hinzu: “Deswegen bin ich jedoch nicht hier.”
“Habe ich mir schon gedacht”, meinte ich und lehnte mich zurück, die Füße auf die Kante meines Schreibtischs gelegt.
Sie rutschte unsicher auf ihrem Sessel umher: “Ich wollte Sie engagieren.”
“Auch das habe ich mir schon gedacht”, setzte ich gelangweilt hinzu.
Sie musterte mich mit einem bösen Blick, weil ich ihr keine höfliche Gelegenheit bot, ihre Sache vorzutragen.
“Sie sollen jemanden für mich finden. Können Sie das?”, rückte sie endlich heraus.
“Klar kann ich das.”
Sie schien noch immer nicht ganz überzeugt davon, ob sie mir ihre Geschichte erzählen sollte, aber ich machte keine Anstalt, ihr entgegen zu kommen.
“Es handelt sich um einen … Freund. Ich habe ihn aus den Augen verloren”, erklärte sie zögernd.
“Bedauerlich, aber das passiert immer wieder”, sagte ich mit einem Lächeln.
In ihren schönen Augen blitzte es kurz auf, dann hatte sie sich wieder im Griff: “Sein Name ist Kevin Delano; ich vermute, dass er hier irgendwo in der Stadt sein muss, ich weiß bloß nicht wo.”
“Schön, und?”
“Sie sollen ihn finden!”, zischte sie wütend, setzte dann aber sofort wieder ein unschuldiges Schmollen auf: “Bitte!”
“Kein Problem. Warum?”, fragte ich weiter.
“Ich … ich würde ihn gerne wiedersehen. Sie wissen schon … wir sind alte Freunde.”
Ich zog die Beine vom Tisch und beugte mich zu ihr vor: “Ich glaube Ihnen kein Wort.”
Sie schaute mich für einen Moment mit Angst in den Augen an, reckte dann kampflustig das Kinn vor und sagte: “Und wenn schon, was geht Sie das an? Ich möchte, dass Sie ihn finden!”
“Sehen Sie, jetzt kommen wir uns näher. Ich finde ihn, kein Problem. Was können Sie mir über Delano erzählen?”
“Nicht viel. Er ist noch nicht lange dabei. Vielleicht ein, zwei Wochen. Ich denke, er hat es selbst getan”, antwortete sie knapp.
“Warum?”, wollte ich wissen.
“Vermutlich irgendeine Art von Kummer. Depressionen. Peng …”
“Sie sind nicht sonderlich hilfreich”, bemerkte ich.
“Mehr weiß ich wirklich nicht. Ich habe nur so ein Gefühl, dass er jetzt unter uns ist. Deshalb sollen Sie ihn finden”, sagte sie leise und schaute mich mit ihren strahlenden Augen an.
Ich lächelte: “Gut, was passiert, wenn ich ihn gefunden habe?”
Sie kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe: “Geben Sie mir Bescheid. Dann machen wir einen Treffpunkt aus und Sie bringen ihn dorthin, einverstanden?”
Ich zuckte mit den Schultern: “Sie sind die Chefin, ganz wie Sie wollen. Wo erreiche ich Sie?”
Sie erhob sich und wandte sich zum Gehen: “Ich habe ein Zimmer im Dead Men’s End, fragen sie nach Miss Vain, Zimmer 203. Schönes Loch haben Sie da.”
Damit verschwand sie und ließ mich und mein Loch alleine.
Das Loch stammte von einer Luger und saß ziemlich genau an der Stelle, wo mal mein Herz geschlagen hatte. Vor ziemlich langer Zeit hatte mir jemand eine Kugel in den Rücken gejagt und mich damit aus dem Reich der Lebenden katapultiert. Ich war zwar tot, aber noch lange nicht weg. Eigentlich hätte ich der Sache auf den Grund gehen und meinen Mörder irgendwie ausfindig machen müssen, vermutlich wäre ich dann erlöst gewesen. Aber ich tat es nicht. Ich hatte einfach so eine Ahnung, dass am Ende nicht das Paradies auf mich warten würde, also zog ich es vor, meinen Job zu machen.
Der bestand aus guter alter Detektivarbeit. Vielleicht war es unter den Toten nicht ganz dasselbe, aber es gab immer noch genug zu tun. Irgendwie fühlte ich mich wohl dabei.
Nach unserem kleinen Gespräch wartete ich noch zwei Stunden, drehte untätig Däumchen, und machte mich dann auf zu Sammy.
Er war ein guter Geist, nicht der klügste, aber was macht das schon. Wenn einer in der Stadt etwas über Neuankömmlinge wusste, dann er.
Ich fand ihn am Bahnhof, wo er den ein- und abfahrenden Zügen wehmütig hinterher schaut. Sammy starb durch einen Arbeitsunfall – ein Waggon hatte ihn zerquetscht, als er gerade dabei war, die Bremsen zu warten. Sein Körper war ziemlich entstellt; der gesamte Brustbereich war platt gedrückt, so dass die Knochen aus seinem Overall herausstachen.
“Hey, Sammy”, begrüßte ich ihn.
“Roger, alter Schnüffler. Schön dich zu sehen”, grunzte er und klopfte mir auf die Schulter.
“Wie läuft das Geschäft?”
“So lala, die Arbeitsunfälle haben ein bisschen abgenommen. Die meisten, die sterben, fahren direkt nach oben oder unten. Kaum einer, der hier bleibt”, gab er bedauernd zurück.
“Warte ab, es wird schon wieder besser.”
Vor uns lief eine altmodische Dampflok ein und kam mit quietschenden Rädern zum Stehen. Der Koloss spie dichte Dampfschwaden und verstummte dann mit einem klagenden Pfeifton. In den Fenstern der Waggons sah ich die verstorbenen Passagiere; Männer und Frauen, die ihren Tod noch nicht recht fassen konnten. Verloren saßen sie da und warteten auf die Weiterfahrt, kaum einer stieg aus.
“Direkt nach unten. Einen Halt hier – ohne aussteigen zu können, einen im Wald, wo es keiner möchte, und dann geradeswegs abwärts. Arme Schweine, allesamt”, sagte Sammy und kratzte sich eine der bleichen Rippen.
Ich betrachtete die Toten und fragte mich, welchen Zug ich nehmen müsste, wenn meine Zeit hier einmal abgelaufen sein sollte. Vermutlich könnte ich gleich mitfahren.
“Sehen nicht gerade wie Stammgäste aus”, meinte ich.
“Warst lange nicht mehr hier. Die Zeiten haben sich geändert. Heute fahren Typen in die Hölle, da würdest du dir an den Kopf fassen. Früher hätten sie die nicht rein gelassen”, seufzte mein Gegenüber.
Wir standen schweigend nebeneinander, bis der Schaffner den Zug aus dem Bahnhof pfiff. Mit lautem Stampfen rollte er davon, die Gesichter der Toten so ausdruckslos wie zuvor.
“Hast du eine Ahnung, ob ein paar Neue in der Stadt sind?”, erkundigte ich mich schließlich.
“Es gibt immer Neue, du musst schon ein bisschen genauer sein.”
“Selbstmörder, seit etwa zwei Wochen.”
Sammy verzog den Mund und zupfte an einer seiner Rippen: “Du weißt genau, dass sich niemand freiwillig mit denen abgibt, wenn sie hier ankommen. Die machen nicht mal Halt hier, sondern fahren direkt weiter.”
“Ist mir schon klar, ich dachte ja nur, dass du vielleicht was gehört hast. Der Knabe, den ich suche, heißt Delano – hat sich vermutlich erschossen.”
“Habe ich noch nie gehört. Ist hier nicht ausgestiegen. Vermutlich ist er noch im Wald”, krächzte Sammy und wandte sich zum Gehen.
“Verflucht! Könnte es nicht doch sein, dass er hier angekommen ist?”
“Hör’ zu, Cross: Ich habe ihn nicht ankommen sehen, also wird er nicht hier sein. Ich höre mich aber gerne noch einmal um. Wenn ich etwas erfahre, sage ich es dir. Mache dir aber keine all zu große Hoffnung”, meinte Sammy resignierend.
“Danke, Sammy. Bist ein großartiger Geist”, bedankte ich mich und verließ den Bahnhof.