Die letzte Reise (Krimi aus dem Totenreich 3)
Krimi aus dem Totenreich 3
Eine mysteriöse Halskette. Ein verschwundener Spieler. Ein skrupelloser Gangster. Eine verführerische Frau. Roger Cross hat in seinem neusten Fall alle Hände voll zu tun, Licht ins Dunkel des Totenreichs zu bringen. Ist die Kette nur ein bloßes altägyptisches Schmuckstück? Oder wirklich ein Weg zurück ins Leben? Schon bald muss Cross ordentlich strampeln, um den Kopf über Wasser zu halten. Denn die Erinnerung ans Lebendreich ist Gold wert – die Rückkehr auch einen Mord!
Dies & Das
- Nach sieben Jahre Pause kehrte der tote Privatdetektiv Roger Cross auf die Bildfläche zurück. Mit dem Altern hatte er dabei wenigistens keine Probleme.
- Über die Krimis aus dem Totenreich
Konsumieren
Fakten
Krimi aus dem Totenreich 3
Kurzgeschichte
Genre: Hard-boiled, Horror
Verlag: Kindle / Neobooks
Dezember 2013
ASIN: B00HGJFHRO
Leseprobe
Ich konnte das Meer durch das geöffnete Fenster riechen, noch bevor die mehrspurige Straße zu einem einsamen Band Richtung Labelle verkümmerte. Ein schwerer, feuchter Geruch, der heran kroch und zu nisten begann. Er erinnerte mich an einen ungelüfteten Keller in dem irgendetwas vor sich hinfaulte. Eine Leiche vermutlich. Hinter den Vororten mit ihren heruntergekommenen Eigenheimen kamen ein paar verlassene landwirtschaftliche Betriebe und schließlich ausgedorrte Wiesen. Dann schlängelte sich die Küstenstraße an vergilbten Reklametafeln vorbei, mindestens zehnmal das gleiche Motiv – Suntop Waschpulver mit einer strahlenden Hausfrau darauf. Aus mir unbekannten Gründen musste sich die Werbung auch über den Tod hinaus behaupten. Jetzt tauchte das Meer auf und weigerte sich bald darauf, aus der Landschaft zu verschwinden. Sein Gestank passte zu der schwarzen Brühe, die bis zum Horizont reichte. Das Meer der Unsicherheit. Angeblich brandete es bis in die Gefilde der Lebenden, man musste nur weit genug hinausfahren. Wenn einen nicht vorher die tückische Strömung oder Untiefen hinderten. Mit Sicherheit wusste jedoch niemand, was am anderen Ufer wartete. Weit draußen kreuzten einige schrottreife Tanker in den Fahrtrinnen, vermutlich direkt im Bermuda-Dreieck verloren gegangen. Der Himmel über ihnen wollte die Sonne nicht durchlassen und hielt sie hinter einem diesigen Schleier gefangen. Ein warmer, idyllischer Tag.
Labelle lag drei Fahrtstunden von der Stadt entfernt, ein verschlafenes Küstenörtchen mit weißen Häuschen und den typischen Touristenläden. Nur, dass niemand hier jemals zum Urlaubmachen herkam. Die Villen schmiegten sich ans Kliff, bereit, in die Tiefe zu stürzen, wenn der Fels zu bröckeln begann. Ein exklusives Fleckchen für die Reichen und Schönen.
Barrents Haus lag am anderen Ende von Labelle, etwas abseits selbst von den anderen Villen. Ein Gebäude mit viel Glas und einem Flachdach, zeitlos geschmacklos. Eine hölzerne Plattform hing über dem Abgrund und lud zu Tanzabenden ein.
Ich lenkte meinen Wagen die Einfahrt hoch und parkte neben einer Limousine und einem Sportcoupé. Die verdorrten Blumen und das abgestorbene Gras waren sorgfältig gepflegt, dem Haus selbst merkte man erst auf den zweiten Blick an, dass es Opfer eines Feuers geworden war. Unter der weißen Farbe sah ich die verkohlten Holzleisten.
Der Türklopfer brachte es nicht zum Einsturz, also wartete ich. Im Hintergrund rauschte träge das Meer, im Haus ging eine Tür, aber ansonsten war es hier oben angenehm ruhig.
Ein Butler öffnete und streckte den Kopf heraus. “Sie wünschen?” Er war klein und aufgequollen, mit einer grobporigen Nase und blutunterlaufenen Augen. Sehr wahrscheinlich, dass er sich tot gesoffen hatte.
“Roger Cross – Mr. Barrent erwartet mich.”
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. “Das ist richtig. Bitte, folgen Sie mir nach hinten.” Er stieß die Tür auf und führte mich durch die Villa nach draußen. Alles war sauber und ordentlich, aber der Brandgeruch würde dennoch nie ganz verschwinden. Das Innere war wie ein Mausoleum, totenstill und voll gestellt mit Grabbeigaben aus allen möglichen Epochen. Irdene Krüge, Waffen, Masken, Schmuck – in Vitrinen, Regalen und an den Wänden. Ich blieb vor einer Auslage mit goldenen Ketten und Ringen stehen, vielleicht altrömischer Herkunft, aber was wusste ich schon davon. “Muss ja ein paar besorgte Hinterbliebene haben, Ihr Chef.”
Der Butler runzelte die Stirn: “Mr. Barrent ist Sammler, einer sehr bedeutender.”
“Natürlich auch möglich.”
Der alte Knabe machte sich scheinbar nichts aus Humor: “Hier entlang, bitte, Mr. Cross.” Er geleitete mich durch das Wohnzimmer auf die Terrasse. Die Plattform war mit einem Tisch und Stühlen hergerichtet. “Wenn Sie sich bitte einen Augenblick gedulden wollen.” Er sparte sich die Verbeugung und überließ mich dem Wind und dem Panorama. Das ganze Konstrukt knarrte und ächzte, als ich mich an die Reling lehnte und auf das schwarze Wasser hinab schaute. Weit draußen trieben Bojen, die übereifrige Schwimmer davor warnten, sich der Strömung auszusetzen, auch wenn ich nicht wusste, wer überhaupt einen Fuß in diese stinkende Brühe setzen würde. Die dunklen Wellen liefen unter mir an einem hellen Strand aus, an dem ein Motorboot lag. Eine Jacht lohnte wohl nicht. Unweit davon stand ein einsamer Liegestuhl auf dem sich eine Blondine räkelte, die noch viel einsamer aussah. Ihr Badeanzug verbarg nicht allzu viel ihres wohlproportionierten Körpers. Unsere Blicke begegneten sich und ich war mir sicher, dass sie gerne ein wenig Gesellschaft dort unten gehabt hätte.
“Mr. Cross? Schön, dass Sie es einrichten konnten. Mein Name ist Geoffrey Barrent.” Eine tiefe Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Er wirkte wie ein Mittfünfziger, grau an den Schläfen, nicht mehr ganz formschön um die Hüften, Maßanzug, nervöse Hände.
“Schöne Aussicht haben Sie von hier oben.” Ich deutete mit dem Kinn in die Tiefe.
“Meine … Frau.”
“Nett.” Wir schüttelten uns die Hand und nahmen Platz. Barrent schien einer von den Typen zu sein, für die alles richtig lief: Geld und politischer Einfluss ergänzt von einer hübschen Geliebten und einer unauffälligen Todesart. Herzinfarkt oder etwas in der Art. Kein äußerer Makel – nicht mal ein Loch in der Brust. “Wie kann ich Ihnen helfen, Stadtrat?”
Seine Finger brauchten immer etwas zu tun – sich eine Zigarette anzünden, die Asche fortschnippen. Er stieß den Rauch aus und beobachtete, wie der Wind ihn zerfaserte. “Mir ist etwas abhanden gekommen, von dem ich hoffe, dass Sie es wiederbeschaffen.”
“Blond?”
Barrent sah mich einen Moment mit halb geöffnetem Mund an, dann zerdrückte er die angefangene Kippe auf dem Boden. Das Holz unter seinem Stuhl war übersät mit kleinen Brandlöchern. “Nein, nichts in der Richtung. Meine … Frau genügt mir völlig, wenn Sie das meinen.”
“Für die Meinungsbildung sind nun Sie zuständig, Stadtrat. Was also fehlt, wenn es keine Frau ist?”
“Ein Kunstgegenstand.”
“Eine der Grabbeigaben.”
“Richtig. Ein wertvolles Stück aus meiner Sammlung, eine Kette in Form einer Totenmaske. Reines Gold, die Augen sind aus Edelsteinen. Spätägyptisch.” Er zündete sich eine neue Zigarette an. Sein Feuerzeug war ungewöhnlich – ein silbernes Zippo mit einer Gitarre darauf. Das Metall glänzte wie frisch poliert.
“Ist das auch eine?”
Barrent hielt es gegen das Licht. “Ja, aus dem Grab eines Musikers.”
“Hübsch.” Das Besondere an Grabbeigaben war, dass sie zumeist makellos ins Reich der Toten wechselten. Die ganzen anderen Dinge wiesen immer eine Unstimmigkeit auf – Kratzer, fehlende Teile, Defekte. Oft war es die emotionale Bindung ihres Besitzers, der ihnen vorausgeeilt war. Oder eine kollektive Sehnsucht, die sie hierher trieben. Wenn sie schließlich hier ankamen, waren sie so tot wie alle hier und mussten mühsam wieder zusammengebastelt werden. So gab es hier mehr Schrott als alles andere. “Diese Halskette ist Ihnen gestohlen worden?”
Der Stadtrat zögerte einen Moment mit seiner Antwort, dann nickte er: “Ja, leider. Ich bewahrte das kostbare Stück in einem Wandsafe auf, aber vor zwei Tagen war es plötzlich verschwunden.”
“Ein Einbruch?”
“Nicht direkt …”
“Einer Ihrer Angestellten?”
Barrent schüttelte den Kopf: “Mein Sohn.”
“Barrent Junior?” Ich hatte nicht gehört, dass der Politiker ein Kind hatte. Andererseits hatte ich auch von seiner Frau noch nichts gehört. Aber es gab solche Clans – ganze Sippschaften, die sich auch im Tod noch auf die Nerven gingen. Vermutlich moderten sie alle in der gleichen Gruft.
“Nicht mein leiblicher Sohn. Harry Price war Pilot, ehe ihn die Japaner abgeschossen haben. Er ist … beinahe mein eigen Fleisch und Blut.”
“Ektoplasma.”
“Sie wissen, was ich meine. Ehe er zu mir kam, irrte er ziellos umher. Ich gab ihm ein Zuhause. Wir stehen uns sehr nahe.”
“Deshalb auch der Diebstahl.”
“Harry hat Probleme, er ist ein Spieler. Ich gebe ihm Geld, aber es genügt nicht. Er hat die Kette genommen, um seine Schulden zu begleichen.”
“Sie scheinen schon alles zu wissen, wofür brauchen Sie da mich?”
“Das ist korrekt. Ich weiß sogar, bei wem er die Schulden hat. Einem Gangster namens Danny Eston, vielleicht haben Sie schon von ihm gehört. Er betreibt eine Reihe Clubs und Spielhöllen.”
“Flüchtig. Man sagt, er habe ein paar hervorragende Beziehungen zur Stadtverwaltung, die ihm eine Menge Ärger ersparen, wenn er mal wieder etwas Illegales durchzieht. Also immer.”
“Davon weiß ich nichts, Mr. Cross, und will davon auch nichts wissen. Ich will einzig und allein die Kette. Sie sollen sie beschaffen.”
“Zurückstehlen?”
“Oder kaufen, falls es nicht anders geht. Eston wird sie mit Sicherheit noch nicht abgestoßen haben, sondern wissen, dass ich sie zurückhaben will.”
“Aber direkte Geschäfte mit einem wie ihm schaden Ihrem Image, daher schalten Sie mich ein.”
“Ein Mann in meiner Position kann es sich nicht erlauben, mit kriminellen Elementen zu verkehren. Ich erwarte, dass Sie dementsprechend diskret vorgehen und meinen Namen nicht nennen.”
Immerhin war mein gesellschaftlicher Status schlecht genug, um mit einem Verbrecher vom Schlage Estons Umgang zu pflegen. “In Ordnung, ich beschaffe Ihnen die Halskette wieder, Barrent.”
“Und Harry!”
“Ist der auch gestohlen worden?”
“Natürlich nicht. Aber seit der Tat ist er nicht mehr nach Hause gekommen. Ich möchte, dass Sie ihm sagen, dass er sich keine Sorgen zu machen braucht und ich ihn zurückerwarte.”
“Rührend. Vorausgesetzt, er war es und verliert weiteres Geld in Estons Spielhöllen.”
“Wo soll er denn sonst sein? Hier ist eine Skizze der Maske.” Barrent reichte mir einen zusammengefalteten Zettel. “Sie sollte nicht allzu schwer zu identifizieren sein.”
“Gibt es auch eine für Price?” Ich steckte das Papier ein, ohne es mir anzusehen.
“Harry ist Mitte Zwanzig, etwa Ihre Statur, braune Locken, mit einem kaputten Bein. Das Linke.” Er holte eine goldene Taschenuhr aus der Brusttasche.
“Auch eine Beigabe?”
Barrent klappte sie zu und nickte abwesend: “Gehörte einem Uhrmacher, sehr schönes Stück. Ich muss nun zu einem Termin, soll ich Sie zurück in die Stadt mitnehmen?”
“Danke, ich finde den Weg schon allein. Außerdem steht mein Wagen vorne. Sind Sie sicher, dass Harry die Kette genommen hat?”
“Absolut. Er ist neben mir der einzige, der die Kombination des Safes kennt.”
“Falls Danny Eston sich nicht überzeugen lässt, das Schmuckstück freiwillig zurückzugeben, woran ich ohnehin zweifle, wie hoch wollen Sie pokern?” Wir gingen um das Haus herum zum Parkplatz.
“Zwanzigtausend, aber nur, wenn es wirklich nicht anders geht. Ich erwarte, dass Sie meinen Verlust so gering wie möglich halten.”
Vom Garten führte eine steile Holztreppe zum Strand hinab und das nächste Grundstück war weit genug fort, um nicht von den Nachbarn belästigt zu werden. Eine zerschlissene Hollywoodschaukel quietschte, als ich ihr einen Stoß versetzte – das Geräusch war weithin zu hören. “Ist das der normale Preis für solche Artefakte?”
“Sagen wir, ich hänge an diesem Stück.” Barrent reichte mir die Hand. “Geben Sie mir Bescheid, sobald Sie was herausgefunden haben.” Der Chauffeur hielt ihm die Tür auf und ich sah dem Stadtrat dabei zu, wie er davonfuhr.
Statt es ihm gleich zu tun, ging ich zurück zum Kliff und stieg die wacklige Treppe hinab. Der Butler beobachtete mich von einem Fenster im oberen Stock, verzog sich jedoch hinter einen Vorhang, als ich grüßend den Hut hob.
Das Panorama war wirklich akzeptabel, erstklassige Lage – wobei ich mir nicht sicher war, ob es nicht nur die Blondine war, die es aufwertete. Ich konnte mich noch nie für ein Meer erwärmen, das wirkte, als hätte man es aus allen stinkenden Abwässern der Lebendwelt destilliert. Die schwarzen Wellen liefen träge auf dem Sand aus, nicht mehr lange und sie würden den Liegestuhl erreichen. Vielleicht konnte ich hier Retter in der Not sein. Meine Schritte knirschten auf dem weichen Untergrund. Wie alles hier drüben war auch der Sand nicht fein und weiß, sondern steinig und grau. Hier und da lagen Klumpen von vermoderndem Seetang. Von der offenen See wehte ein kühler Wind herüber, der an meinem Trenchcoat und dem Handtuch auf dem Liegestuhl zerrte.
Sie trug einen einteiligen Badeanzug, schwarz mit silbernen Seepferdchen darauf, die ihre Äuglein aufrissen wo sich ihr üppiges Dekollete befand. Ein Seidentuch bedeckte die rechte Gesichtshälfte. Ihr wasserblaues Auge musterte mich. “Geoffrey schon wieder fort?”
“Eine Besprechung.” Ich stellte mich so, dass das Wasser beinahe meine Schuhspitzen erreichte und zündete zwei Zigaretten an, um ihr eine davon zu geben. Wie das Essen auch, schmeckte der Tabak nach nichts. Dennoch behielt man solche Angewohnheiten bei, um sich an die gute, alte Zeit sterblicher Tage zu erinnern.
“Danke.” Sie sog einmal daran und ließ die Kippe dann verglühen. “Sie sind dieser Detektiv, von dem Geoffrey gesprochen hat?” Die Haut unter dem Tuch war übel verbrannt, ich sah die Wunden durch den Stoff schimmern.
“Ihr Mann bat mich, etwas für ihn zu erledigen, Mrs. Barrent.”
Sie lachte freudlos: “Hat er Ihnen erzählt, dass ich seine Ehefrau bin? Das sieht ihm ähnlich. So wenig wie Harry sein Sohn ist, bin ich seine Frau. Aber Geoffrey träumt von einer wirklichen Familie, deshalb das Theater. Er weiß gar nicht, wie lächerlich er sich deswegen macht.” Ihr Blick verlor sich in der diesigen Ferne. “Wie ist Ihr Name, starker Mann?”
“Cross, Roger Cross.”
“Sie können mich Vivian nennen. Gray, nicht Barrent. Schon fündig geworden?”
“Kommt darauf an, nach was gesucht wird.”
Vivian zog einen Moment die Unterlippe ein, dann erwiderte sie: “Harry oder dieses Ding, das Geoffrey verloren hat.”
“Das ihm gestohlen worden ist – oder glauben Sie etwas anderes, Vivian?”
“Was spielt es schon für eine Rolle, was ich glaube?”
“Harry hat Spielschulden und Mr. Barrent hält ihn für fähig und verzweifelt genug, den Diebstahl begangen zu haben.”
“Ich weiß, dass Harry es nicht genommen hat.”
“Kennen Sie Mr. Price besser?”
“Sie wollen wissen, ob ich was mit Harry habe?” Ihr Auge sah mich kalt an. “Und wenn schon …”
“Ich meinte nur, ob Sie mir etwas über ihn erzählen können.”
Vivian runzelte die Stirn. Der Wind spielte mit dem Seidentuch, hob es immer wieder an, um die Entstellung zu zeigen. Sie strich es abwesend wieder glatt. “Wir sind zusammen hinausgeschwommen.” Sie deutete auf eine hölzerne Plattform, die kurz vor den Bojen auf dem Wasser trieb. “Manchmal waren wir fast so weit, uns der Strömung hinzugeben. Wenn dort draußen ein Weg zurück ist, muss ihn doch jemand finden. Alles ist besser, als hier zu sein.”
“Harry wollte fort?”
“Selbst auf die Gefahr hin, den letzten Rest seiner Seele zu verlieren.”
“Aber Sie nicht, Vivian?”
Sie lächelte: “Zu unsicher.”
“Was ist schon sicher?” Ich überließ den Zigarettenstummel dem Meer. Leute wie Harry und Vivian gab es zu genüge hier drüben. Unruhig, fortgezogen – zu einer Welt, die sie längst verloren hatten. Die Mythen für ihre Erlösung hielten sich hartnäckig: Der Horizont des schwarzen Ozeans, die lichtlosen Kavernen unter dem Kargland, uralte Tempelruinen auf längst vergessenen Berggipfeln. Der Weg zurück ins Leben.
“Eine Abendverabredung, zum Beispiel.” Sie räkelte sich auf ihrem Liegestuhl. Verdammte Seepferdchen.
“Die neigen dazu, besonders unsicher zu sein.”
“Manche Dinge sind ein solches Risiko wert.”
“Und Mr. Barrent …”
“… ist abends ohnehin mit seiner Sammlung beschäftigt.”
“Gegen zehn heute Abend?”
“Ich bin im Exodus/span>, holen Sie mich dort ab.”
Das Wasser griff bereits nach meinen Schuhen. “Sie sollten nicht zu lange hier bleiben, Vivian.”
“Keine Angst, ich bin früh genug hier weg.” Sie stieß ein kehliges Lachen aus und legte einen Arm über die Augen, um die Sonne und mich auszusperren.
Schuster’s erinnerte mich an ein Hopper-Gemälde, vielleicht mochte ich es deswegen. Am Service konnte es nicht liegen und am Essen schon gar nicht. Aaron Schuster bediente hinter einem langen Tresen, an dem rote Lederhocker standen. An den gelb gestrichenen Wänden hingen blecherne Werbetafeln und die Glasfront war komplett gesprungen. Laden und Besitzer waren durch eine Gasexplosion ohne großen Umweg hierher katapultiert worden.
Nun drifteten die Toten hier ein und aus, starrten in ihre Kaffeetassen oder blätterten in vergilbten Zeitungen. Aaron sah dem Treiben mit mürrischem Blick zu, wechselte so wenig Worte wie möglich mit seinen Gästen und brüllte zum schwerhörigen Koch in die Küche hinüber.
“Was ist eigentlich aus der hübschen Bedienung geworden, die zur Probe hier war? Beth, Babs oder irgendwas in der Art.”
“Betty”, knurrte Schuster und wischte mit einem löchrigen Lappen über den Tresen. “Hab sie gefeuert – die Kundschaft hielt sie für arrogant.”
“Man hat ihr das Genick gebrochen.”
“Und? Ist das etwa meine Schuld? Außerdem brauche ich keine Hilfe in meinem Laden.”
“Aber vielleicht irgendeinen Lichtblick.” Ich rührte in meinem Kaffee, der irritierende Ähnlichkeit mit dem Zeug aus dem Meer der Unsicherheit hatte. Ich vermied es, Schuster deswegen zu fragen.
“Du kommst doch trotzdem.”
“Nur weil dein Loch die Straße runter liegt.”
Die Glastür schwang auf und Arty Polcewski trat ein. Angeblich war er damals aus dem Team von Carter entfernt worden und hatte sich danach als unabhängiger Grabräuber betätigt. Bis ihm ein kleines Missgeschick in einem Pharaonengrab das Lebenslicht ausgepustet hatte. In dem zu weiten Tweedanzug konnte man kaum die Stelle erkennen, wo ihm ein Steinquader das Rückrat zerquetscht hatte. Jetzt unterrichtete er an der Universität. Arty setzte sich und starrte mich durch seine runde Nickelbrille an. “Cross, was verschafft mir die Ehre einer Einladung?”
“Die Formvollendung deines Gesichts, Polcewski, und wenn das nicht, dann wenigstens dein Fachwissen.”
“Meine Leichen sind alle schon ein paar Jahrtausende tot, völlig uninteressant für dich, Cross.” Schuster knallte eine Tasse Kaffee vor ihm auf den Tresen.
Ich schob den Zettel daneben. “Hast du zu Lebzeiten schon mal etwas in der Richtung gestohlen?”
“Was für ein böses Wort – ich war ein Mann der Wissenschaft.”
“Erzähl das den alten Ägyptern, wenn du einem von ihnen über den Weg läufst, aber nicht mir.”
Arty faltete umständlich das Papier auseinander und studierte die Skizze darauf. Sie zeigte ein Gesicht mit einem dieser Pharaonenhütchen und geflochtenem Kinnbart. “Eine Totenmaske?”
“Etwas in der Art, muss eine Halskette sein, besetzt mit Edelsteinen.”
“Interessant.” Er nippte nachdenklich an seinem Kaffee. “Sechste Dynastie, würde ich sagen. Wenn es tatsächlich ein Schmuckstück ist, dann tippe ich auf die Maske des Merekare.”
“Merekare? Auch ein Pharao?”
“Richtig. Keiner von Bedeutung im großen Lauf des Nils. Aber von unserer Seite aus betrachtet nicht uninteressant.”
“Komm schon, Arty, ich will hier nicht so alt werden wie einer der Pharaonen.”
“Dann nimm Merekare, der wurde nicht sonderlich alt. Hatte zeitlebens panische Angst vor dem Sterben und beauftragte die Erschaffung der Maske, um nach dem Tod wieder auf die Erde zurückkehren zu können.”
“Das Ding sollte ihn wiederbeleben?”
“In der Art – angeblich ist es ein Wegweiser, um aus dem Reich der Toten herauszufinden.”
“Ein Kompass.”
“Ein Märchen.”
“Merekare hat den Rückweg also nicht gefunden?”
“So viel ich weiß, kam der Kerl nicht mal hier an. Nur seine Maske. Wenn sie überhaupt funktioniert, weiß niemand wie oder welche Auswirkung sie hat. Wie ich gehört habe, hat ein unbekannter Sammler die Maske vor einer Weile erstanden. Falls du sie suchst, kann ich dir auch nicht mehr sagen.”
“Das genügt schon, ich wollte nur meine Geschichtskenntnisse auffrischen.”
Polcewski grinste: “Natürlich. Mein Rat ist, dass dein Auftraggeber nicht zu viel Geld für das nette Schmuckstück ausgeben sollte.” Er glitt vom Hocker.
“Seltsamer Vorschlag aus dem Mund eines Grabräubers.” Ich schob ihm eine Hand voll Münzen rüber, die er in seiner Tasche verschwinden ließ.
“Das war einmal, Cross. Ich bin geläutert.”
“Und die Hölle hat Tag der offenen Tür.”
“Wäre mal eine Abwechslung.” Wir schüttelten uns die Hand.
Ich sah ihm nach, wie er die Straße entlang schlenderte und in der Dunkelheit verschwand. Vielleicht hatte Harry die Geschichte der Maske gekannt und sich einen Freischein ins Leben erhofft. Wenn er schon auf dem Weg war, dürfte es ziemlich schwierig werden, seine Spur aufzunehmen. Blieb zu hoffen, dass er nur ein einfältiger Spieler war, der seine Schulden begleichen wollte.